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Mehr Funktionen gleich mehr Wert?
Design
Es kursiert ein stiller Virus, der sich durch die gesamte Branche ausbreitet – aber die meisten Menschen scheinen ihn nicht zu bemerken. Oder vielleicht wollen wir ihn nicht bemerken, denn tatsächlich begrüßen die meisten ihn mit offenen Armen. Er infiltriert Konferenzräume und Chats, tarnt sich als Innovation und flüstert falsche Versprechungen von Wachstum.
Das Verrückte daran: dieser „Virus" fordert mehr Opfer als jeder wirtschaftliche Abschwung. Von vielversprechenden Startups, bis hin zu etablierten Produkten – alles beginnt mit einem einzigen, unschuldig klingenden Satz: „Können wir nicht einfach [XYZ] hinzufügen?"
Am Anfang steht ein Produkt. Sauber, elegant und fokussiert. Ein kleines Team arbeitet mit viel Herzblut an einem spezifischen Problem, um es wirklich verdammt gut zu lösen. Das schönste UI Design, das du je gesehen hast. Minimalistisch. Intuitiv. Perfekt.
Sechs Monate später sieht es aus wie das Cockpit einer Boeing 74. Jedes Produkt endet unweigerlich genauso wie das Produkt, dass es ursprünglich ersetzen wollte. Wie es dazu kommt? Ein Nutzer schreibt: „Ich liebe deine Webseite, sie ist so elegant – aber wenn du nur diese eine Funktion hinzufügen könntest, würde ich sie noch mehr lieben.". Das Feedback eines anderen Kunden: „Ich würde deine App nutzen, wenn sie nur diese Integration hätte..."
Aber es ist nicht nur das Feedback der Nutzenden – es sind auch Projektbeteiligte und Stakeholder, die mitreden wollen. Entwickler:innen, PMs, Marketing, Sales – alle wollen Teil davon sein, und das zu Recht. Jede:r hat Ideen, wie man es besser machen könnte. „Wenn wir nur diese Funktion hätten, würden wir doppelt so schnell wachsen.". Dabei klingt jede Anfrage, jede Idee für sich genommen völlig vernünftig. Als Dienstleister sagen sagen wir zu den meisten ja. Auch, weil wir unsere Kunden glücklich machen wollen. Jemand fragt, wir liefern. Einfach, oder?
Nur noch eine Sache...
„Mehr Features bedeuten mehr Wert", sagen wir uns – wie Süchtige, die den nächsten Schuss rechtfertigen. Doch das ist nicht das, was Nutzende wirklich wollen, auch wenn sie vielleicht sagen, dass sie es wollen. Der Grund, warum sie sich in die wunderschöne Einfachheit eines Produkts verliebt haben, die ein oder zwei Dinge wirklich gut macht, ist, dass sie im Kontrast zu all den Alleskönnern im Markt stand.
Und das ist der lustige Teil der Geschichte: Ein neues Produkt oder Design wird oft geboren, um das „Gegenmittel" zu dem Chaos zu sein, das vorher da war. Einfach, fokussiert, elegant. Endlich eine gute Lösung. Die eine, die für immer gedacht ist. Und dann, ein Jahr später, ist dieses neue Produkt genau das geworden, was es einst zu ersetzen suchte. Dann beginnt der Kreislauf von vorne mit ein neues Produkt. Es scheint, als könne man der Ironie nicht entkommen.
Die Wahrheit ist: Manchmal sind es nicht einmal Nutzer:innen oder das eigene Team. Wir sind es, die uns nicht zurückhalten können. In dem Moment, in dem wir eine Minute Ruhe haben, wollen wir sie mit etwas füllen. Wir können nicht stillsitzen – deshalb fangen wir an, am nächsten Feature zu arbeiten, und dann am nächsten und am nächsten. Es ist der Fluch aller Designer und Entwicklerinnen.
Die wahren Kosten
Dieses Verhalten überfüllt nicht nur Benutzeroberflächen und Visualitäten – es tötet die „Seele" eines Produktes. Teams verbringen den ganzen Tag damit, Features zu warten, die niemand oder kaum jemand nutzt, während das Kernprodukt vor sich hin verrottet. Jede neue Ergänzung ist ein weiterer Fehlerpunkt, ein weiteres Support-Ticket, ein weiterer Grund für Nutzende, das Schiff zu verlassen und etwas zu finden, das sich wieder einfacher, fokussierter anfühlt.
Das Marketing-Team wird Schwierigkeiten haben zu erklären, was das Produkt eigentlich macht, weil es am Ende zu viele Dinge macht – alle schlecht. Nachdem jede:r seine oder ihre Ideen eingebracht und „bekommen hat, was er/sie wollte", wird das Produkt in tausend Richtungen gezogen, aber es fühlt sich an, als würde es nirgendwo hingehen. Die Codebasis wird zum Chaos, die Erfahrung der Nutzenden wird zusammenhanglos und die Vision ... ja, welche Vision nochmal? Niemand weiß es mehr zu diesem Zeitpunkt. Am Ende verlassen Nutzende das Produkt, und sogar das eigene Team – das so hart daran gearbeitet hat, neue Features hinzuzufügen – wird von seinem eigenen Monster entfremdet, das es geschaffen hat.
Das Gegenmittel
Diese Entwicklung zu bekämpfen erfordert dieselbe Disziplin wie nüchtern zu bleiben: konstante Wachsamkeit und die Bereitschaft, NEIN zu Dingen zu sagen, die sich im Moment gut und vielversprechend anfühlen, aber dich langfristig zerstören werden. Wenn jemand ein neues Feature vorschlägt, hilft es kurz Inne zu halten und sich folgende Fragen zu stellen:
Dient dieses neue Feature unserem Kernzweck?
Können wir dasselbe Ziel erreichen, indem wir verbessern, was wir bereits haben?
Passt dieses neue Feature in unsere langfristige Vision? In 2 Jahren? In 5 Jahren? In 10 Jahren? Wo passt es hinein? Können wir wirklich dahinter stehen?
Was sind die wahren Kosten der Entwicklung dieses Features? Was sind die langfristigen Wartungskosten?
Was ist der wahre Nutzen der Auslieferung? Übertreiben wir seine Wichtigkeit?
Macht es vielleicht mehr Sinn, etwas zu entfernen, anstatt etwas hinzuzufügen?
Die Wahrheit über weniger
Das Schwierigste an Design ist nicht das Hinzufügen von Features. Das Schwierigste ist zu wissen, wozu man NEIN sagt. Es braucht eine gute Portion Erfahrung und Selbstvertrauen, um Stakeholder mit ihren Feature-Wünschen zu enttäuschen, sogar zu ignorieren, was Konkurrent:innen ausliefern, und darauf zu vertrauen, dass wenige Dinge außergewöhnlich gut zu machen besser ist als viele Dinge nicht so gut zu machen.
Nutzende erinnern sich nicht an Produkte, die alles sein wollten. Sie erinnern sich an Produkte, die ihr spezifisches Problem perfekt gelöst haben und dann aus dem Weg gegangen sind.
Wenn das nächste Mal also jemand vorschlägt, „nur noch ein Feature" hinzuzufügen, sollte man daran denken: Jedes großartige Produkt wird nicht durch das definiert, was es einschließt, sondern durch das, was es den Mut hat auszuschließen. Oder, um mit den Worten von Steve Jobs zu enden:
Die Leute denken, Fokus bedeutet, ja zu der Sache zu sagen, auf die man sich konzentrieren muss. Aber das ist überhaupt nicht das, was es bedeutet. Es bedeutet, nein zu den hundert anderen guten Ideen zu sagen, die es gibt. Du musst sorgfältig auswählen. Ich bin tatsächlich genauso stolz auf die Dinge, die wir nicht gemacht haben, wie auf die Dinge, die ich gemacht habe. Innovation bedeutet, nein zu 1.000 Dingen zu sagen.
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